AM TAG VOR DER HOCHZEIT

Eugen zog einen letzten schwungvollen Federstrich unter den aufwändig gestalteten Stammbaum, den er für Heidelinde und Henner in den letzten Wochen gezeichnet hatte. Einen uralten Rahmen dafür hatte er vom Dachboden geholt und von einem Restaurator aufarbeiten lassen. Doch dieses Geschenk würde nur eine kleine Beigabe sein zu dem, was seine Tochter als Brautgabe mit in die Ehe bekommen sollte. Seine Wälder am Brelinger Berg sollten das Hochzeitsgeschenk sein.
Eine Überraschung, von der niemand etwas ahnte.

Henrick, der Vater des Bräutigams, begrüßte Henners Freunde aus Nijmwegen überschwänglich und freute sich wirklich, dass sie den weiten Weg zur Hochzeit auf sich genommen hatten. Natürlich mit ihren Wohnwagen. Jetzt musste er Jan und Hermen nur noch klarmachen, was Heidelinde nicht erfahren durfte. Die beiden würden es schon verstehen und ihn nicht verraten. Es waren ja seine ältesten Freunde.

Heidelinde traf sich mit ihren beiden Brautjungfern, die dem großen Tag fast mehr entgegenfieberten als sie selbst. Ihre kleine Nichte, Elise, war noch ein wenig schüchtern, denn sie war es nicht gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen. Wie gut, dass sie die selbstbewusste Franzi an ihrer Seite hatte.
"Stimmt es, dass Du oben auf dem Berg ein Hotel bauen willst und alle anderen wollen das nicht?" hatte Elise sie vorsichtig gefragt.
Heidelinde amüsierte sich ob dieser treffenden schlichten Analyse. Genauso war es. Und "alle anderen" waren Heidelinde herzlich egal.

An diesem späten Sonnabendnachmittag, an dem die ankommenden Gäste und die Hochzeitsvorbereitungen eine Atmosphäre heiterer Aufregung brachten, ahnte niemand, dass schon am Sonntagabend eine Person nicht mehr am Leben sein würde. Das Foto des Brautpaares mit den Vätern würde das letzte Bild sein, auf dem alle vier Personen lebendig zu sehen waren.
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