GESCHICHTE, GESCHICHTEN UND EIN VERDACHT 

Das Erste, was Jens Jansen auffiel, als er auf das Heimatmuseum der gemeinde Wedemark zuging, waren die zwei Mädchen, die sich hinter einem Busch versteckten. Er erkannte Franzi und Elise, die den Mord entdeckt hatten.
„Was macht Ihr beiden denn da?“, sprach er sie an.
„Psst“, sagte Elis und legte den Finger auf den Mund.
„Wir ermitteln“, bekräftigte Franzi.
„Was macht Ihr?
„Naja, heute kommen doch so viele Leute, die auch bei der Hochzeit waren. Und wir wollen gucken, ob jemand sich verrät.“ Elise guckte verschwörerisch.
„Ich hab in einem Krimi gelesen, dass der Täter immer an den Tatort zurückkehrt“, ergänzte Franzi. Und hier ist  es doch ganz in der Nähe passiert.
„Wir müssen doch was tun und helfen, den Mörder von Tante Heidi zu finden.“ Elise schien ihrer Sache ganz sicher.
Jens Jansen schmunzelte. Wenn die Mädchen auf diese Art, die Tat verarbeiteten, war das vielleicht gar nicht schlecht. Hauptsache, sie fanden nicht wirklich etwas heraus, das sie möglicherweise ein Gefahr bringen konnte.
Er fragte vorsichtshalber. „Was habt Ihr denn schon ermittelt?“
Elise zögerte und schaute Franzi an. Die nickte. Und Elise packte aus.
„Die Martje hat ein Foto von Henner in ihrer Brieftasche und sie hat ihn hinterm Haus geküsst neulich.“
„Auf den Mund“, ergänzte Franzi, „aber Martje kann es nicht gewesen sein, die ist so nett. Aber ich glaube, die ist in Henner verknallt.“
„Dabei ist er ihr Cousin!“ Elise hatte aber noch einen anderen Verdacht: „Die Shiva hat aufm Berg in die Luft gesprochen und zu irgendeinem Aron gesagt, nun sei er nicht mehr in Gefahr.“
„Und Shiva ist heute Nacht mit ner Tasche und einer Schaufel aus dem Haus gegangen!“

Jens Jansen wurde hellhörig. Diese Mädchen begaben sich vielleicht wirklich in Gefahr.
„Ihr dürft niemanden verfolgen, wenn Ihr denkt, der war’s. Das ist gefährlich. Wenn ihr irgendwas seht, dann ruft mich an.“ Er steckte den Mädchen Visitenkarten zu. „Und auf wen wartet Ihr jetzt gerade?“
„Das wissen wir noch nicht. Auf jemand, der was Komisches macht eben.“ Elise schaute vorsichtig um die Ecke zu den Leuten, die auf das Museum zugingen.

Jens Jansen verabschiedete sich von den Mädchen - ziemlich nachdenklich, denn jede der Beobachtungen, die sie eben in wenigen Sätzen zusammengefasst hatten, klang verdächtig. Die beiden hatten seit Sonntag mehr herausgefunden als die Kriminala-Polizei, die sich eingestehen musste, noch komplett im Dunkeln zu tappen. Was hatte diese Shiva nachts vergraben? Das bewegte Jansen am meisten.

Der Grund, warum die ganze Familie von Oegenbostel und viele ihrer Freunde sich heute im Heimatmuseum versammelten war irgendwie tragisch. Eine Tafel zur Geschichte dieser ehrwürdigen Familie sollte im Museum enthüllt werden. Nun war die Zukunft der Familie um einen Zweig ärmer geworden.
Eugen von Oegenbostel hatte trotz seiner tiefen Trauer zugesagt, die Eröffnungsrede zu halten, im Andenken an seine Tochter. Es würde wohl eine ziemlich traurige Sache werden.

Jens Jansen betrat das Museum und verpasste dadurch einen kurzen Dialog, der Franzi und Elise staunend zurückließ. Eugen von Oegenbostel und Freya Franke waren angekommen und vor dem Museum stehengeblieben.

„Eugen, Du musst es heute sagen. Es ist der richtige Moment.“ Freya klang sehr konsequent.
„Muss es denn so öffentlich sein, Liebling? Ich bin mir nicht sicher….“
„Oh doch“, unterbrach ihn seine Lebensgefährtin und überreichte ihm ein Foto. Es wird zeit - und sie gehört auch zur Familie.“
„Nun gut“, Eugen steckte das Foto in sein Jacket, atmete tief durch und betrat mit Freya das Museum.

Mit großen Augen kam Elise hinter dem Busch hervorr, der sie und Franzi verborgen hatte.
„Franzi, das warst Du auf dem Bild!“
„Ja, ich hab’s gesehen. Aber was kann das bedeuten?“
„Und was heisst das: Du gehörst auch zur Familie!“
Schnell betraten die Mädchen das Museum. Das war spannend.

Jens Jansen hatte sich in eine Ecke des Museumsraumes zurückgezogen, von der aus die Szenerie gut zu beobachten war. Er sah Kurt Kappenberg, der mit seiner Aktentasche unter dem Arm auf Eugen zuging und etwas von einer Wasserlandschaft erzählte.

Dann begann die Enthüllung der Ausstellungstafel mit einer kurzen Begrüßung durch den Museumsleiter Kohnert, der zunächst sein Beileid ausdrückte.

Schließlich ergriff Eugen von Oegenbostel das Wort und bat um eine Schweigeminute für „unsere wunderbare Heidelinde“. Als nächstes zog er einen Zettel aus seiner Jackettasche und hielt eine weitschweifige rede über Ahnenforschung, eine Vorfahrin aus dem 12. Jahrhundert, auf deren Spuren er gerade in Bischofsakten forschte.
Diese rede war sicher vor dem Mordfall entstanden. Nun konnte Eugen sich daran festhalten, versuchen, ein wenig Normalität zu erzeugen.
Als die Tafel enthüllt wurde, sah man eine Ahnentafel der Oegenbostels mit Fotografien mehrerer Generationen.
Einige Gäste konnten ihre Tränen nicht zurückhalten.

Doch dann setzte Eugen noch einmal zum Reden an und zog ein weiteres Foto aus seinem Jacket.
„Ich möchte Euch und Ihnen heute etwas mitteilen, was viel zu lange geheim geblieben ist, obwohl es gar kein Geheimnis sein müsste. Ich habe am Sonntag eine wunderbare einzigartige Tochter verloren. Doch sie ist nicht meine einzige Tochter.

Eugen machte eine kurze Pause und ließ die Worte wirken.
Jens Jansens Blick fiel auf Eugen-Eric von Oegenbostel, der entgeistert seinen Vater anstarrte. War das Zorn in seinem Gesicht?

„Bitte komm mal zu mir nach vorne, Franziska.“
Franzi, sonst nicht gerade schüchtern, schlich mit dem Blick nach unten an Eugens Seite.
„Dieses wunderbare Mädchen ist nicht nur die Tochter meiner Lebensgefährtin Freya, sie ist auch meine Tochter. Franziska Franke, ich möchte Dich in der Familie willkommenheissen und entschuldige mich dafür, nicht schon eher dazu gestanden zu haben.“
Er nahm Franzi in den Arm, die verwundert murmelte: „Papa?“
„Ja, Franzi - Papa“, rief ihre Mutter, die nun nach vorn zu Eugen und ihrer Tochter getreten war.
Unter den Augen aller Gäste heftete Eugen das Bild Franziskas neben Eugen-Eric und Heidleinde an die Ausstellungstafel.

Zunächst war eine betretene Stille im Raum, dann gab es Applaus, jemand rief „Ich hab das schon immer geahnt“. Nur einer applaudierte nicht. Eugen-Eric stand schweigend da. Und dann brach es wütend aus ihm heraus.

„Ein uneheliches Kind. Du. Aber meine Frau war nicht gut genug für diese feine Familie!“
Er griff Elise am Arm und drängelte sich mit ihr durch den Raum zum Ausgang.

Jens Jansen stand mit offenem Mund auf seiner Beobachterposition. Was er heute alles erfahren hatte.
Wenn noch weitere Reden geplant waren, so gingen sie im Tumult unter, der nun entstand, weil Freunde und Familienmitglieder sich um Eugen, Freya und Franzi scharten.
„Dann weiß man ja jetzt auch, warum Eleonora von einem Tag auf den anderen verschwunden ist“, erzählte Kurt Kappenberg einem Gast.
Eleonora? Den Namen hatte Jansen noch nie gehört. Er schaute auf die Ausstellungstafel und entdeckte im Stammbaum einen Namen. „Eleonora de Arion y Salandra“ war also die geschiedene Frau von Eugen!
Warum war sie wohl nicht bei der Hochzeit ihrer Tochter gewesen? „Ausgewandert nach Chile“, so hatte er heute jemanden reden hören.“ Eine komische Mutter, der die Anreise zur Hochzeit ihrer Tochter zu weit war.
Doch Jansen wollte nicht urteilen, vielleicht gab es Gründe.

Und es war nicht die Zeit, sich mit Nebenschauplätzen aufzuhalten. Die Frau aus Chile hatte ihre Tochter sicher nicht auf dem Gewissen. Und Verdachtsmomente hatten sich an diesem Nachmittag so viele ergeben, dass es Zeit wurde, in das Kommissariat zurückzukehren und die neuen Erkenntnisse mit Nadine Neumann zu teilen.


 Sobald Eugen von Oegenbostel dem zugestimmt hat, werden wir seine Ahnentafel an dieser Stelle für Nachforschungen veröffentlichen...
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