DER WALD BRICHT SEIN SCHWEIGEN

Was hatte es mit diesen Schriftstücken nur auf sich? Am Donnerstagabend hatte Nadine Neumann in den sozialen Netzwerken etwas entdeckt: den Überraschungsfund eines Geocachers. Kommissar Jansen hatte Nadine wieder einmal erstaunt angeschaut, als sie davon berichtete. Verstanden hatte er nicht wirklich, als die Kollegin davon erzählte, dass jemand nach einem "Mystery" gesucht und stattdessen eine Metallkassette gefunden hatte - mit erstaunlichem Inhalt.

"Muss ich diese Sache mit dem Geocaching verstehen? fragte er.
Nadine Neumann überlegte einen Moment.
"Nee, Jens, eigentlich geht es ja nur darum, was der Typ in dieser Kassette gefunden hat. Das hat nämlich mit den Oegenbostels zu tun. Ich hab den Finder schon bei Facebook erreicht. Er kommt nachher aufs Revier."

Was der junge Mann mitbrachte, als er schließlich in das Büro der Hauptkommissarin trat, war mehr als rätselhaft. In der Kassette, die hinter einem Stein am Brelinger Berg nur notdürftig vergraben war, befanden sich Schriftstücke, deren Inhalt man nur schwer einordnen konnte,.

Als erstes betrachtete Jens Jansen einen handgeschriebenen Einkaufszettel auf einem Kalenderblatt aus dem Jahr 2006. Warum jemand so etwas aufhebt und auch noch versteckt war an sich nicht erklärlich. Das zweite Schriftstück war ein halbfertiger Brief auf dem Briefpapier der Eleonora von Oegenbostel.

 "Lieber Eugen!
Wenn Du diese Zeilen liest bin ich fort. Ich werde ein neues Leben beginnen - in Chile, meiner wirklichen Heimat. Ich habe Dein Doppelleben mit Freya lange geduldet und ich glaube, dass sie Deine wahre Liebe ist. Darum will ich Euch nicht länger im Weg stehen und auch nicht den Eklat einer Scheidung verursachen. Ich gehe still und werde nie wieder nach Deutschland zurückkommen."

Grußlos endet der Brief, der unten durchgestrichene Buchstaben zeigte. War es nur ein Entwurf? Hatte Eleonora diese Kassette vergraben? Dem Augenschein nach lag sie noch nicht lange im Boden. Eigentlich sah sie aus, als habe sie ohne Einfluss von Wind, Wetter und Erde die Zeit seit dem Jahr 2006 überstanden.
Nadine Neumann betrachtete währenddessen die Postkarten, die sich ebenfalls in der Kassette befunden hatten. Ansichtskarten von Santiago de Chile. Eine Karte war leer, zwei waren jedoch beschrieben.

"Meine geliebte Heidelinde!
Ich weiß, Du möchtest eine Erklärung, warum ich so überstürzt das Land verlassen habe. Mach Dir keine Sorgen um mich. Schon bald werde ich Dir mehr schreiben. Sei versichert, dass es mir gut geht und ich oft an Dich denke. Vergiss mich nicht! Deine Mamita"

Eine nicht abgesandte Postkarte aus Chile? Oder war sie in einem Kuvert an Heidelinde von Oegenbostel versandt worden? Eine Anschrift stand nicht auf der Karte. War dies eine Kassette, die Heidelinde aufbewahrt hatte? Doch wer hatte sie vergraben?

Die nächste Postkarte gab noch mehr Rätsel auf.

"Mein geliebter Sohn!
Ich weiß, dass Du mir vieles übel nimmst und dass wir nicht in Frieden auseinandergegangen sind. Doch möchte ich Dir sagen, dass ich Dich immer geliebt habe. Behalt mich in hoffentlich guter Erinnerung, auch wenn sich unsere Leben vielleicht nicht wieder kreuzen. Werde glücklich, so wie ich in Chile glücklich werden möchte.
Deine Mamita, die immer nur das Beste für Dich und die Familie wollte."

Auch diese Postkarte trug keine Anschrift und der Text war mit einem schwungvollen Strich durchgestrichen. Woher kamen diese Karten? Und warum lag eine weitere Postkarten mit chilenischem Motiv bei, auf der kein handgeschriebener Text stand? Es machte den Eindruck, als habe Eleonore von Oegenbostel Postkarten aus ihrer angeblichen neuen Heimat tatsächlich daheim in Oegenbostel geschrieben? Auf dem letzten Zettel stand nur eine Sequenz, die mit "PW Mail" überschrieben war: HeidiEric1828.

Hatten diese alten Schriftstücke überhaupt etwas mit dem aktuellen Fall zu tun?
Während Jens Jansen noch grübelte, klingelte das Telefon.
Nadine Neumann war nicht die einzige, die das Posting des Geocachers in einer Wedemärker Facebookgruppe gefunden hatte.
Shiva Schuster war am Apparat.

"Es geht um die Briefe von Eleonora, Herr Jansen."
"Woher wissen Sie, dass wir solche Dokumente haben?
„Es stand doch bei Facebook. Dieser Geocacher hat ja zuerst die Briefe gepostet und dann drunter geschrieben, dass er sie bei der Polizei abgeben musste. Ich denke, ich sollte Ihnen etwas dazu erzählen."

Kommissarin Neumann war auf einmal hellwach. Was hatte diese Geisterfrau denn mit den Dokumenten zu tun?
Am Freitagnachmittag würde sie es wissen, denn der Kollege hatte Shiva Schuster an den Rand des Brelinger Geopfades bestellt, in die Nähe des Ortes, wo die Dokumente gefunden wurden.

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Donnerstag, 18 Uhr:

Nadine Neumann hatte im Lauf des Donnerstags verschiedene Theorien entwickelt, was es mit der Post der Eleonore auf sich hatte. Sie hatte viel gegoogelt - auf der Suche nach einer ganz bestimmten Lebensspur. Jens Jansen hingegen hatte Telefonate geführt - zu Nadines Erstaunen auf spanisch.
"Dass Du noch ne andere Sprache außer Plattdeutsch kannst hätte ich nicht gedacht", kommentierte sie anerkennend.
"Vielleicht ergänzen wir uns doch ganz gut." Jens Jansen lächelte sie an. "Dafür kannst Du wirklich gut mit Internet und so."

Nun kamen beide an dem Sitzplatz auf dem Gelände der Oegenbosteler Heide ein, wo Shiva Schuster allein vor sich hin meditierte.
Jens Jansen sah Shiva aufmerksam an. Sie wirkte bedrückt und sah aus, als wäre ein Geständnis von ihr zu erwarten. Doch was würde sie gestehen?

„Frau Schuster, jetzt bin ich aber gespannt. Was wissen Sie von diesen Dokumenten?"
"Ich habe die Briefe versteckt, Frau Neumann"
"Sie? Und: Was hat es damit auf sich?"

Die Geschichte, die  Jansen und Neumann nun zu hören bekamen, barg mehr als eine Überraschung.
Shiva Schuster hatte die Kassette unter einer losen Fußbodendiele in einer alten hölzernen Jagdhütte im Wald gefunden. Dort hatte sie sich während eines langen Gewitters  untergestellt und die Zeit für eine Tanzmeditation genutzt. Und eine Fußbodendiele hatte jedes Mal geknarrt, wenn sie darauf trat. Die Diele war lose und barg einen besonderen Schatz.

"Wann haben Sie die Kassette gefunden?" Nadine Neumann war wirklich gespannt auf Shivas Geschichte.

"Das war erst vor Kurzem. Mich hat es neugierig gemacht. Ich kannte die Geschichte von Eleonora und ihrer Auswanderung nach Chile. Aber als ich die Dokumente gelesen habe wusste ich, dass an der Geschichte etwas nicht stimmt. Ich hab die Kassette dann erst vor ein paar Tagen am Geopfad vergraben. An einer Kreuzung von Energielinien übrigens! Ich dachte mir: wenn die Polizei auf dem Gut Wohnungen durchsucht, dann sieht das komisch aus, wenn ich die habe."

"Sie meinen, dass Frau von Oegenbostel nicht nach Chile ausgewandert ist?"

"Genau. Ich habe das Gefühl, sie lebt noch irgendwo in Deutschland - vielleicht sogar ganz in der Nähe. Warum sollte sie sonst einen angefangenen Abschiedsbrief und diese Postkarten in einer Hütte auf dem Brelinger Berg verstecken? Möglicherweise steckt eine romantische Geschichte dahinter, ich habe da schon einige Nachforschungen angestellt."

„Und haben Sie etwas herausgefunden?“ Nadine Neumann war wirklich gespannt.

„Leider nur wenig. Doch ein Freund von mir hat auf meine Bitte hin eine umfangreiche Onlinerecherche betrieben. Ich kann Ihnen sagen: Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass Eleonora in Chile lebt. Im ganzen Internet nicht. Auch unter Ihrem Mädchennamen de Arion y Salandra gibt es keine Hinweise.“

Genau das hatte Nadine Neumann am Abend zuvor auch festgestellt - und Kollege Jansen war bei Telefonaten mit chilenischen Kollegen ebenfalls kein Stück weitergekommen.

Von Weitem waren nun Stimmen zu hören. Eugen-Eric von Oegenbostel und Freya Franke näherten sich in Jagdkleidung und stutzten, als sie die Kommissare mit Shiva Schuster sahen.

"Bitte gehen Sie sensibel mit dem lieben Eric um. So ein reizender Mensch.", tuschelte Shiva Schuster noch, bevor die Försterin und ihr Stiefsohn angekommen waren.
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Freya und Eric staunten, als sie davon hörten, welches Geheimnis der Brelinger Berg preisgegeben hatte. Beide waren nicht bei Facebook und hörten somit zum ersten Mal davon.

"Ein Geochacher hat die Sachen gestern gefunden", erzählte Jens Jansen und zeigte ihnen die Dokumente.

"Nun, diese Postkarte habe ich nie bekommen. Ich hätte sie auch sofort zerrissen", kommentierte Eugen-Eric. "Ich will an diese Frau, die sich meine Mamita nennt nicht mehr erinnert werden. Vater auch nicht. Reicht doch, wenn Heidelinde immer wieder von ihr geredet hat."

"Sie waren also froh, als Ihre Mutter ging?" Nadine Neumann war erstaunt über den Zorn im Gesicht des jungen Gutsherrn.

"Ich möchte darüber nicht reden." Eugen-Eric tigerte nervös auf und ab, als ob er heftige Gefühle unterdrücken müsse. Er entfernte sich ein paar Schritte, griff zu einem dicken Ast und donnert ihn mit voller Wucht in den Wald. Dann entfernte er sich mit schnellen Schritten.

"Eric, warte!“ Shiva Schuster verabschiedete sich kurz und lief ihm hinterher.

Die Kommissare und Freya Franke blieben verwirrt zurück.
"Frau Franke, können Sie sich das Verhalten Ihres Stiefsohns erklären?"

Jens Jansen hatte das Gefühl, dass der Dokumentenfund, der ihm gerade noch als Kuriosität ohne Zusammenhang zum aktuellen Mordfall erschienen war, doch mehr bedeuten könnte.

Freya Franke stutzte. Sie war blass geworden. War sie das bereits, als die Sprache auf die Dokumente kam oder erst, als Eugen-Eric seinen Gefühlsausbruch zeigte? Kommissar Jansen hatte nur auf Oegenbostel junior geachtet.
Nun konzentrierte er sich umso mehr auf die Försterin.

"Eric und seine Mutter haben nicht mehr miteinander geredet", erklärte die Lebensgefährtin seines Vaters. "Nora hat Erics Frau quasi vom Gutshof vertrieben.“
Das Zerwürfnis zwischen den beiden sei so tiefgreifend gewesen, dass auch Eugen-Eric den Gutshof verlassen hatte und erst zurückkam, als seine Mutter gegangen war.
Davon hatten die Kommissare bereits gehört, nicht jedoch, wie groß der Groll Eugen-Erics auf seine Mutter war.
Hatte dieser Groll auch die Schwester betroffen?

"Heidelinde hat bei dem Mobbing gegen Erics Frau mitgemacht. Als Nora nicht mehr auf dem Gutshof war haben sie sich aber versöhnt". Freya Franke glaubte nicht, dass der alte Streit noch zwischen den Geschwistern gestanden hatte. Der emotionale Ausbruch Eugen-Erics hatte sie jedoch gerade ebenfalls geschockt.

"Aber sagen Sie nochmal: Wer hat diese Kassette gefunden? Und kann ich die Sachen nochmal sehen?", fragte die Försterin nun. Nadine Neumann gab ihr die Plastikhüllen mit den Dokumenten. Doch als Freya Franke die Schriftstücke aus den Hüllen nehmen wollte, hinderte der Kommissar sie daran.
"Nicht, Frau Franke, vielleicht müssen wir noch die Fingerabdrücke darauf prüfen."

Freya Franke gab die Dokumente zurück. "Und was hat der Mann gesucht, der diese Sachen gefunden hat?", fragte sie.
"Einen Geocache", erläuterte Nadine Neumann und wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, was das bedeutet.

"Ich weiß, was ein Geocache ist", winkte sie ab. Damit haben wir hier im Wald öfter zu kämpfen. Diese Cacher rennen quer durch den Wald und scheuchen das Wild auf. In der alten Jagdhütte liegt übrigens definitiv kein Cache, das wüsste ich. Also hat der Finder wohl gelogen."

Nadine Neumann hatte noch eine andere Frage: "Meinen Sie, dass Eleonora vielleicht gar nicht nach Chile gegangen ist?"

Freya Franke reagierte empört: "Warum sollte ich daran zweifeln? Heidi hat doch ab und an Mailkontakt mit ihrer Mutter und uns davon erzählt. Die beiden haben sich gut verstanden - Heidi war ihrer Mutter sehr ähnlich."

Nadine Neumann beobachtete die Försterin genau.
"Sie und Herr von Oegenbostel hatten ja bekanntermaßen schon ein Verhältnis, als Eleonora noch hier war. Wie lange ging das denn vorher schon?"

"Was hat das denn mit dem Mord an der armen Heidi zu tun?" Freya Franke blickte die junge Kommissarin unmutig an. "Aber ich sage es Ihnen gern: Es hat nie aufgehört. Seit wir 17 Jahre alt waren. Doch so wie Gabi angeblich nicht standesgemäß für Eric war, fanden mich Eugens Eltern damals nicht standesgemäß für ihren Sohn. Nora wusste das und hat weggeschaut. Das können Sie ja auch in dem Brief lesen, wie ich gerade gesehen habe.“

"Irgendwie hab ich das Gefühl, dass Eleonora von Oegenbostel von keinem so richtig vermisst wurde, als sie abgehauen war“, Nadine Neumann sah die Försterin grübelnd an.

„Das haben Sie richtig erkannt, Frau Neumann. Den alten Drachen hat keiner vermisst. Und darum sollten Sie vielleicht auch wieder dran denken, den Mord an unserer lieben Heidi aufzuklären, oder?“

"Sie haben Recht, wir sollten tatsächlich wieder nach dem Mörder suchen, statt uns mit alten Dokumenten zu beschäftigen", sagte er. "Wir müssten dann mal los. Auf Wiedersehen Frau Franke."

Die Försterin nickte nur, schulterte ihr Jagdgewehr und setzte den Weg in Richtung des Forsthauses fort.
Nadine Neumann blickte ihr lange nach.
"Wir müssen noch einmal zum Gutshof", sagte sie. "Jens, wir brauchen die Mailadresse der Eleonora. Das Passwort haben wir ja."

"Und was glaubst Du, können wir dadurch erfahren?" Jansen wappnete sich, wieder irgendetwas Technisches zu hören, das die IT-Spezialisten im Kommissariat besser unter sich ausmachten.

"Wir können herausfinden, von wo sie ihre Mails verschickt hat, Jens. Sie oder jemand anders."
Jansen. "Ich glaube, wir haben denselben Gedanken, was passiert ist, Kollegin. Schauen wir doch mal, ob Eugen-Eric die Mailadresse seiner Mutter kennt."
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Eugen-Eric von Oegenbostel war nicht zuhaus, als die Kommissare eintrafen.
Er war nach seinem Gefühlsausbruch überhaupt nicht nach Haus gekommen.
Dafür trafen sie den verwitweten Bräutigam an, der aus dem Krankenhaus entlassen worden war.
"Ich hab Eric seit heute Mittag nicht auf dem Hof gesehen", erklärte Henner Hoogestrat, der jedoch die wichtigste Frage der Kommissare beantworten konnte.

"Die Mailadresse von Heidis Mamita? Ja, die kann ich Ihnen geben. Heidi hat ihre Mails direkt auf dem Laptop gespeichert. Da sind auch welche von ihrer Mutter dabei. Heidi hat ihrer Mamita oft geschrieben, aber geantwortet hat Eleonora nur ganz selten. In letzter Zeit wohl öfter, sie wollte Heidi sogar das Hotelprojekt ausreden.“
Erstaunt las Nadine Neumann die letzte Mail, die Eleonore ihrer Tochter geschrieben hatte. Sie stammte vom Tag vor der Hochzeit und zeigte, wie detailliert Heidelinde die Vorbereitungen geschildert hatte und was die Mutter dazu zu sagen hatte.
Doch: Nach der Hochzeit hatte die Mutter nicht mehr geschrieben. Gar nicht. Sie hatte sich nicht erkundigt, als eine Mail Ihrer Tochter mit einer Beschreibung der Hochzeit ausblieb. Das konnte nur eins bedeuten...

"Ich glaube, wir sind auf der richtigen Spur", merkte Nadine Neumann an und notierte die Mailadresse. "Alles Weitere mach ich mit den IT-Leuten."

Kommissar Jansen lächelte. "Und ich setze die Durchsuchung in Gang. Ich nehme da wohl besser gleich die SpuSi mit."

Nadine Neumann nickte. "Wir sind nah dran. Also ehrlich, damit hätte ich nicht gerechnet. Aber irgendwie fehlt uns noch eine Verbindung. Wie hängt das alles zusammen?"

Jansen lächelte. "Ich glaube, dass ich diesen Zusammenhang gerade verstanden habe. Herr Hoogestrat, könnten Sie uns zeigen, wo Sie am Dienstag die Erdprobe entnehmen wollten?
Henner Hoogestrat schaute verwundert. "Erklären Sie mir, warum Sie das wissen möchten?"

"Ja, das erkläre ich Ihnen unterwegs."

Nadine Neumann nickte und sah ihren Kollegen zustimmend an. So war das also! Nun waren beide sicher, den Fall gelöst zu haben.
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